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Doppelmoral? Timo Hildebrand verteidigt WM-Spieler und wettert gegen die FIFA

Timo Hildebrand spricht im Utopia-Interview zur WM in Katar
Foto: Timo Hildebrand

Sollten Fußballspieler überhaupt an einer so umstrittenen WM wie in Katar teilnehmen? Ex-Nationaltorwart Timo Hildebrand sagt im Utopia-Interview, dass die Sportler die geringste Schuld treffe. Gleichzeitig hinterfragt er sein eigenes Verhalten von damals.

Als ehemaliger Nationaltorwart kennt Timo Hildebrand den Druck, unter dem die Prof-Fußballer während einer WM stehen. Mit dem Gastgeberland Katar habe die FIFA den Spielern keinen Gefallen getan – denn sie seien nun „die Leidtragenden“, wie er im Utopia-Interview sagt. Gleichzeitig räumt der 43-Jährige, der die WM bewusst meidet, ein: Für Werte einzustehen, sei „viel mehr wert, als noch mehr Geld auf dem Konto zu haben“. Auch sein eigenes Handeln zu WM-Zeiten hinterfragt der Ex-Nationalspieler kritisch.

Timo Hildebrand spricht über die WM in Katar

Utopia: Die WM 2022 steht unter anderem wegen Menschenrechtsverletzungen und Homophobie am Pranger. Hätten Sie sich vom DFB deutlichere Kritik oder vielleicht sogar einen Boykott des Turniers gewünscht?

Timo Hildebrand: Das Thema wird gerade tagtäglich diskutiert. Die Spieler und Trainer sind aber die Leidtragenden; ein Spieler will einfach Fußball spielen. Eine WM ist ein geiles Ereignis. Wenn du mal die Chance hast, bei so einem Turnier dabei zu sein, dann ist das mit das Größte. Ich habe es selbst erlebt und verstehe, dass man da dabei sein will – und die Verbände, also der DFB es den Spielern ermöglichen will. Trotzdem sprechen so viele Dinge gegen diese WM, bereits im Vorfeld und auch jetzt während des Turniers. Wie etwa das Verbot der „One Love“-Armbinde.

Utopia: …mit der Manuel Neuer als Kapitän der Nationalelf dann doch nicht aufgelaufen ist. Was bringen solche Aktionen, wenn zurückgerudert wird, sobald die FIFA mit Sanktionen droht?

Hildebrand: Letztlich haben alle Verbände, die bei der Aktion mitmachen wollten, einen Rückzieher gemacht. Ich hätte mir gewünscht, dass alle Verbände sagen: „Nein, wir ziehen das durch“. Dass sie der FIFA einfach die Stirn bieten – und eben nicht einknicken. Was will die FIFA denn machen? Schließlich findet ohne Spieler auch kein Turnier statt. Ich glaube wir werden noch einige Aktionen erleben. Ich finde, jedes Statement ist gut und führt einfach dazu, dass die FIFA immer weniger Macht hat.

Auch die anhaltenden gesellschaftlichen Diskussionen finde ich wichtig. Denn nur so wird deutlich, dass solche Ereignisse nicht in solchen Ländern stattfinden dürfen. Und, dass sich Fußballfunktionäre nicht mehr die Taschen füllen dürfen.

„Die Spieler sind das letzte Glied in der Kette“

Utopia: Aber auch die Spieler verdienen hohe Summen durch ihre Teilnahme an der WM, während sie für mehr Toleranz werben. Nicht umsonst gibt es den Vorwurf der Doppelmoral.

Hildebrand: Ich glaube den Spielern darf man keinen Vorwurf machen. Sie haben auch keinen Bock, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, sie müssen es aber. Wenn sich ein Kapitän hinsetzt und sagt, er trägt die „One Love“-Binde und trägt sie dann doch nicht, stößt das natürlich auf Kritik. Das ist logisch, aber die Spieler sind das letzte Glied in der Kette und müssen es jetzt ausbaden. Deswegen darf man Manuel Neuer auch nicht verurteilen. Es ist ein brutal schwieriges Thema für einen Spieler. Viele stehen für Werte ein, letzten Endes wollen sie aber ihrem Sport nachgehen und ein Ereignis wie die WM miterleben. Keiner weiß, ob er nochmal eine WM spielt. Es ist auch schade, man freut sich jahrelang auf ein solches Erlebnis.

Ich hätte mir gewünscht, dass Verbände, aber auch Sponsoren ganz klare Zeichen setzen und sagen „Wenn die WM dort stattfindet, kündigen wir unsere Partnerschaft.“ So wie es Rewe jetzt gemacht hat. Ich glaube, wenn alle Sponsoren der FIFA gesagt hätten, das ist ein No-Go, dann hätte es auch keine WM in Katar gegeben. Auch die Nationalverbände hätten Nein sagen können. Das wäre ein Zeichen gewesen, das aber hätte schon vor Jahren oder direkt nach der Vergabe passieren müssen.

Toleranz, Rassismus, Menschenrechte: Wie sind Sie damit umgegangen?

Utopia: In der Öffentlichkeit positioniert sich der DFB schon lange gegen Rassismus. Wie wurde während Ihrer Zeit in der Nationalmannschaft mit Toleranz, Menschenrechten oder Korruption umgegangen? Wurden solche Themen auch innerhalb der Mannschaft diskutiert?

Hildebrand: Solche Diskussionen wie heute gab es damals nicht. Ich war bei der EM 2004 in Portugal dabei und in Deutschland 2006. Klar kam inzwischen raus, dass auch die WM in Deutschland gekauft war. Wie wahrscheinlich jede andere.

Utopia: Wenn es solche Diskussionen innerhalb der Mannschaft nicht gab, wie sind Sie mit den Themen dann umgegangen?

Hildebrand: Ich denke, in erster Linie möchte man als Sportler gesehen werden. Aber man muss auch persönlich für Werte einstehen und das auch so kommunizieren. Während meiner aktiven Karriere habe ich das auch nicht gemacht. Ich kenne viele ehemalige Spieler wie Benjamin Adrion, der Viva von Aqua gegründet hat; oder Neven Subotic, der in vielen Interviews schon gesagt hat, er hat sich im Nachhinein geschämt für seinen Umgang mit Geld und für die Werte, die er gelebt hat.

„Vielleicht wird einem das erst nach der Karriere bewusst“

Utopia: Späte Reue also?

Hildebrand: Vielleicht wird einem das erst nach der Karriere bewusst, wie dankbar man sein muss, als Fußballprofi zu leben. Vor zehn oder fünfzehn Jahren gab es aber auch diese Informationsüberdosis noch nicht. Heute wird alles hoch und runter diskutiert und man kann sich viel intensiver damit beschäftigen.

Utopia: Würde es etwas bringen, den Spielern weniger Geld zu bezahlen, sodass auch Meinungsvielfalt und echtes Handeln lukrativer wird?

Hildebrand: Grundsätzlich verdienen Sportler, gerade Fußballer, extrem viel Geld. Wenn ich beim aktuellen Beispiel der „One Love“-Binde und Manuel Neuer bleibe, wäre es durchaus eine riesige Chance gewesen, die Binde trotz Sanktionen zu tragen. Die Strafe in Kauf zu nehmen, ist viel mehr wert, als noch mehr Geld auf dem Konto zu haben. Und wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, ist es eigentlich auch egal, ob man noch mehr oder weniger Millionen hat. Die spielen keine Rolle mehr bei den Dimensionen, über die wir sprechen.

Viele Menschen in Deutschland – wie ich auch – sagen, sie haben keine Lust, die WM anzuschauen. Der Fußball verliert immer mehr an Wert und an Akzeptanz. Ich glaube wirklich, dass im Fußball jetzt gerade Unsummen gezahlt werden und die Menschen das nicht mehr akzeptieren. Ebenso wie die gesellschaftlichen Missstände in Gastgeberländern wie Katar.

Wie sieht der Fußball der Zukunft aus?

Utopia: Wie sieht für Sie der Fußball der Zukunft aus, muss er politischer werden? Also genau das sein, was die FIFA aktuell nicht will?

Hildebrand: Ja genau. Die FIFA tritt die Werte mit Füßen, für die wir einstehen und die Welt insgesamt einstehen sollte; nämlich Offenheit, Toleranz und Respekt.

Zur Person: Timo Hildebrand (43) ist ehemaliger deutscher Nationaltorwart. Für den FC Schalke 04, die TSG Hoffenheim und den VfB Stuttgart spielte er in der Bundesliga. 2007 wurde er mit Stuttgart Deutscher Meister.

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