Länder, Unternehmen, Produkte; wer’s nicht schon ist, will es in den nächsten Jahren werden: klimaneutral. Doch was bedeutet das eigentlich, und ist das nicht bloß Greenwashing? Utopia bringt Licht ins Dunkel.
Sie haben es angeblich schon geschafft: Großkonzerne wie die Deutsche Bank und Bosch sind bereits klimaneutral, die EU und Deutschland lassen sich damit hingegen noch Zeit bis Mitte des Jahrhunderts, immerhin hat Deutschland Klimaziele.
Es gibt aber bereits klimaneutralen Versand, Kaffeebecher, Honig und Wein; Kosmetik, Klamotten und sogar CO2-neutrale Turnschuhe. Und all das kommt gut an: In einer Umfrage von Utopia gaben drei Viertel der Befragten an, schon mal klimaneutrale Produkte gekauft zu haben, wenn sie sich gut Informiert gefühlt haben. Etwa die Hälfte der Befragten ist sogar bereit mehr für klimaneutrale Produkte zu bezahlen.
Knapp ein Viertel der Befragten gestehen jedoch, dass sie der Bezeichnung „klimaneutral“ nicht oder nur bedingt vertrauen. Ist solches Misstrauen begründet?
Wie definiert man „klimaneutral“?
Ein klimaneutrales Produkt bzw. eine klimaneutrale Dienstleistung zeichnet sich dadurch aus, dass es die Menge an schädlichen Klimagasen in der Atmosphäre insgesamt nicht erhöht.
Das klingt erst mal gut, doch Vorsicht: der Begriff ist nicht gesetzlich geschützt.
- Anders als z.B. beim EU-Bio-Siegel oder beim Fairtrade-Siegel gibt es hier keine klar definierten Regeln.
- So sind oft nur einzelne Unternehmensbereiche wie der Versand oder die Verwaltung klimaneutral, nicht aber die Beschaffung.
- Die Strategien für die notwendigen CO2-Einsparungen sind ebenfalls sehr verschieden – und für den Verbraucher meist nicht zu durchschauen.
Ein wenig gesundes Misstrauen ist also durchaus angebracht.
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Klimaneutral vs. emissionsfrei
Weniger Interpretationsspielraum gibt es hingegen bei dem Begriff „emissionsfrei“ der im Transportbereich auftaucht. Der Memo/Memolife-Versandhandel verwendet beispielsweise für seine Lieferungen mit Elektrofahrzeugen, eigenem Ökostrom und Lastenrädern im Raum Würzburg ganz bewusst nicht den Begriff klimaneutral, sondern eben emissionsfrei.
„Obwohl die Transporte selbst tatsächlich keinen CO2-Ausstoß verursachen, sind ja dennoch bei der Herstellung der verwendeten Fahrzeuge Emissionen angefallen, weshalb der Begriff klimaneutral nicht ganz passend wäre“, erklärt Pressesprecherin Claudia Silber dazu.
Auch Elektroautos sind übrigens nicht „klimaneutral“. Sie sind „lokal emissionsfrei“, verursachen also CO2 wenigstens nicht dort, wo sie fahren.
Kann ein Land klimaneutral sein?
Ein Dorf, eine Stadt, eine Region, ein Land oder eine ganze Staatengemeinschaft: grundsätzlich ist Klimaneutralität auf all diesen Ebenen möglich.
Ein positives Beispiel ist das kleine südasiatische Königreich Bhutan, welches nach eigenen Angaben sogar mehr Kohlendioxid aufnimmt als es ausstößt. Hier wurde der Klimaschutz sogar in der Verfassung festgeschrieben: mindestens 60 Prozent der Landesfläche müssen per Gesetz immer von Wald bedeckt sein.
In Europa ist Dänemark neuer Klimavorreiter: das Land will nicht nur bis 2050 klimaneutral sein, sondern dies – anders als viele andere europäische Länder, etwa Frankreich – ganz ohne den Einsatz von Atomenergie bewerkstelligen.
Deutschland liegt im internationalen Vergleich in Sachen Klimabemühungen übrigens nur auf Platz 23. Das liegt natürlich auch daran, dass wir eine Industrienation mit energieintensiven Branchen sind. Zu den Ursachen gehört aber auch, dass wir noch immer massiv Kohlestrom produzieren (und diesen auch noch teuer subventionieren).
Klimaneutraler werden
Egal ob auf Unternehmens- oder Regierungsebene: Wer sich in Sachen Klimaschutz verbessern möchte, muss zunächst den eigenen CO2-Fußabdruck ermitteln. Da reicht ein CO2-Rechner nicht mehr, und es kann insbesondere auf Länderebene und bei komplexen Produkten und Firmenstrukturen ganz schön kompliziert sein, weshalb es Beratungsfirmen gibt, die sich darauf spezialisiert haben.
Typische Wege:
1. Klimaneutral durch CO2-Reduktion oder Vermeidung
Nachdem der Status Quo ermittelt wurde, ist die naheliegendste und nachhaltigste Strategie hin zu mehr Klimafreundlichkeit eine Reduzierung der eigenen CO2 Emissionen.
Das kann zunächst aufwändig und kostspielig sein, wenn etwa Räumlichkeiten besser isoliert (großer Impact), energieeffizientere Maschinen angeschafft oder etwa eine eigene Photovoltaikanlage installiert werden. Unternehmen, die den Weg der CO2-Reduktion konsequent gehen, wissen jedoch, dass sich diese Investitionen langfristig auch finanziell lohnen werden.
Dennoch muss bei allen Bemühungen klar sein: eine vollständige Emissionsvermeidung ist quasi unmöglich. Womit wir bei Strategie 2 angelangt wären:
2. Klimaneutral durch CO2-Kompensation
Eine mögliche Alternative bzw. Zusatzoption ist Kompensation. Hierbei werden die verursachten Emissionen durch den Kauf von CO2-Zertifikaten an einem anderen Ort – meist in Entwicklungs- und Schwellenländern – ausgeglichen.
Der Erlös der Zertifikate geht an Klimaschutzprojekte, die zum Beispiel durch Wiederaufforstungen oder den Ausbau erneuerbarer Energien die klimaschädlichen Gase in der Atmosphäre langfristig reduzieren.
Zertifikatskäufer leisten damit durchaus einen wertvollen Beitrag zum Klimaschutz. Trotzdem stehen sie häufig im Schussfeuer grüner Kritiker, die bemängeln, dass man sich von seiner Verantwortung nicht einfach freikaufen könne.
Lies auch: 8 Dinge, die auch Unternehmen für das Klima tun können
Ein Vergleich zwischen dem Emissionshandel mit CO2-Zertifikaten und dem kirchlichen „Ablasshandel“ hinkt etwas, ist aber nachvollziehbar: Beide Systeme ermöglichen es jenen, die entsprechende finanzielle Mittel aufbringen können, ihr Gewissen zu erleichtern – ohne ihr Verhalten insgesamt ändern zu müssen.
In einem Interview mit der Wirtschaftswoche merkt Kathrin Hartmann, Autorin des Buches „Die grüne Lüge“, in dem Zusammenhang zurecht an, dass wir nicht darüber diskutieren sollten, wie man das Schlechte gut macht – sondern wie wir es loswerden. Sie wirft Konzernen vor, ihr Kerngeschäft unter einem „grünen Mäntelchen“ unverändert fortzuführen.
Zuweilen ist die Kompensationen auch ein Feigenblättchen. So können sich Klimaschutzprojekte zum Beispiel nach dem „Gold-Standard“ zertifizieren lassen. Dieser steht zwar für eine hohe Qualität der Projekte. Doch er sagt nichts darüber aus, ob sich die Firmen, die sich damit schmücken, bemühen, ihre eigenen Emissionen zu reduzieren, statt sie über Klimaschutzprojekte nur zu kompensieren.
Klimaneutralität: einige Beispiele
Wie verschieden der Begriff genutzt wird, zeigt ein Blick auf die folgenden Beispiele.
Beispiel Lidl: Fleischersatz Next Level Meats
Lidl bewirbt seine Fleischersatzprodukte „Next Level Meats“ als klimaneutral. Der Discounter hat berechnet, dass die Produkte 91 Prozent weniger CO2-Emissionen verursachen als herkömmliches Rinderhack. Hergestellt werden sie in Deutschland aus deutschem Gemüse.
Die noch übrigen 9 Prozent Emissionen, die überwiegend beim Transport anfallen, werden durch den Kauf von Klimazertifikaten ausgeglichen. Man kann natürlich kritisieren, dass Lidl nur dort mit Klimaneutralität wirbt, wo es mit Veganern und Vegetariern eh schon sensibilisierte Kundschaft gibt und wo es wenig kostet, doch faktisch hat Lidl hier einiges richtig gemacht.
Beispiel Easyjet: 30 Cent pro Flugticket
Kürzlich machte Easyjet Schlagzeilen, als die Airline ankündigte, alle verursachten CO2-Emissionen ohne Mehrkosten für die Kunden auszugleichen. Pro verkauftem Flugticket zahlt Easyjet seither ca. 30 Cent für mehr Umweltschutz. Den meisten Medien war das die Schlagzeilen der Art „Easyjet wird klimaneutral“ wert, obwohl Easyjet selbst das erheblich vorsichtiger kommunizierte.
30 Cent? Ja, das ist besser als nichts. Aber es bleibt Schadensbegrenzung, und im Vergleich zu den Preisen üblicher CO2-Kompensation ist es eher wenig. Speziell beim Flugverkehr wird neben Kohlendioxiden und Stickoxiden (letztere werden seit November ebenfalls kompensiert) auch Feinstaub freigesetzt.
Das Unternehmen räumt in seiner Eigendarstellung immerhin ein: „Es ist uns durchaus bewusst, dass der CO2-Ausgleich nicht der perfekte Weg ist, aber im Augenblick halten wir dies für die beste Möglichkeit, um die CO2-Emissionen des Fliegens zu bewältigen.“
Der Fairness halber sei auch gesagt: Easyjet ist die einzige große Fluggesellschaft, die auf allen Flügen im In- und Ausland die CO2-Emissionen aus dem von ihr verbrauchten Treibstoff ausgleicht. Andere tun halt gar nichts.
Beispiel Bosch: Klimaschutz in allen Prozessen
Dass Unternehmenskomplexität keine Ausrede für mangelnde Klimabemühungen ist beweist die Firma Bosch. Seit 2020 sind alle Unternehmensprozesse von der Entwicklung über die Produktion bis zur Verwaltung klimaneutral – und das bei über 400 Standorten weltweit.
Bosch setzt hierbei auf eine Mischung aus zugekauftem und selbst generiertem Ökostrom und hohen Investitionen in die Energieeffizienz der Standorte. Natürlich kommt das Unternehmen nicht drum herum, unvermeidbare Emissionen durch den Kauf von Zertifikaten zu kompensieren – doch alles in Allem hat der Konzern die Weichen in Sachen Klimaschutz beispielhaft gestellt.
Beispiel Deutsche Bank: Investitionen in Kohle und Öl
Auf ihrer Webseite erklärt die Deutsche Bank stolz: „Die Deutsche Bank will negative Auswirkungen auf die Umwelt so gering wie möglich halten und arbeitet seit 2013 klimaneutral. Auch den Verbrauch von Ressourcen wie Wasser oder Papier reduzieren wir kontinuierlich.“
Es ist eine Sache, in Frankfurt mit Ökostrom die 40 Stockwerke des Büroturms hoch und runter zu fahren. Wer aber wie die Deutsche Bank gleichzeitig weiterhin in Kohlebergbau und Ölindustrie investiert, darf sich über den Vorwurf des Greenwashings nun wirklich nicht beklagen.
Aber es gibt Alternativen, nämlich die einschlägigen Ökobanken:
Beispiel Breitsamer: Klimaschutz beim Honig
Breitsamer macht bei seinem klimaneutralen Fairtrade-Honig sehr deutlich, dass eben vor allem Transport und Verpackung nachträglich neutralisiert werden. Das ist ehrlich und sauber kommuniziert und unterm Strich ist der Honig damit klimaneutraler als nicht neutralisierter regionaler Honig.
Aber. Ein vergleichbares regionales Produkt hätte hier von Anfang an geringere Emissionen beim Transport als das Fairtrade-Produkt aus fernen Ländern. Und es ist eben weniger sinnvoll, hohe Emissionen erst zu erzeugen und dann zu neutralisieren, als sie gleich zu vermeiden.
Fairerweise sei erwähnt: Breitsamer hat auch regionalen Bioland-Honig im Angebot, bei dem das Unternehmen ebenfalls Verpackung und Transport neutralisiert. So hat das Unternehmen am Ende eben getan, was möglich war.
Beispiel Google: Suchmaschine ohne Klimaschaden?
Google ist nach eigenen Angaben seit über einem Jahrzehnt „klimaneutral“, vornehmlich durch Kompensationen, aber auch durch eigene Energieerzeugung und durch Reduktion des Stromverbrauchs über besonders energieeffiziente Rechenzentren.
Allerdings berichtete der britische „The Guardian“ Ende 2019, dass Google Klimawandel-Leugner finanziert. Auch gibt es zahlreiche andere Argumente jenseits von CO2, die man gegen den Megakonzern vorbringen kann. Lies auch: 10 alternative Suchmaschinen.
Klimaneutral-Werbung wird abgemahnt. Zurecht?
Im Mai 2021 beanstandet die Wettbewerbszentrale (eine Kontrollinstanz der Wirtschaft), dass manche Werbung für klimaneutrale Produkte irreführend sei (WZ).
Zwölf Unternehmen mahnte die Kontrollinstanz ab, weil sie mit Aussagen warben, „100 % klimaneutrale Produktion“, „klimaneutrales Produkt“ und „wir handeln klimaneutral“. Diese Aussagen erweckten den Eindruck, dass die Produkte nicht durch Ausgleich, sondern von vornherein klimaneutral seien.
Die Abmahnung zeigt, dass bei der Thematik ein wenig Misstrauen durchaus angebracht ist. Aber eben nur ein wenig, und solche Ereignisse sich aus unserer Sicht kein Grund, allen Unternehmen, die sich bemühen, klimaneutral zu sein, und dies auch kommunizieren, komplett infrage zu stellen.
Fazit: wann ist „klimaneutral“ ernst zu nehmen?
Solange es keinen rechtlichen Rahmen für die Verwendung des Begriffs „klimaneutral“ gibt, bleibt uns Verbrauchern erst einmal nichts anderes übrig, als ganz genau hinzuschauen.
- Lass dich vom Begriff nicht einwickeln: Klimaneutral kann vor allem ein Marketing-Begriff sein, das verhindert heute und auf absehbare Zeit kein Gesetz. Dennoch können Unternehmen es mit solchen Angaben im Rahmen des derzeit Machbaren sehr wohl ernst meinen.
- Achte darauf, ob Firmen ausdrücklich Auskunft darüber geben, wie sie die Klimaneutralität ihrer Produkte gewährleisten oder auf welche Unternehmensbereiche sie sich dabei beziehen.
- Nutze den gesunden Menschenverstand: Kann Fliegen, kann aus anderen Kontinenten herbeitransportierter Kaffee wirklich klimaneutral sein? Wann wäre Schadensvermeidung besser als Schadenskompensation?
- Denke ganzheitlich: Zum Beispiel der „klimaneutrale Coffee-to-go-Becher“: Ja, er ist klimaneutral (durch Kompensation). Das ist besser als ohne. Aber es ist eben immer noch ein Wegwerfbecher, der Berge von Müll hinterlässt und Ressourcen nicht sinnvoll verbraucht, sondern unnötig verschwendet. Alternativen in der Bestenliste BPA-freie Mehrweg-Kaffeebecher to go.
- Wurde am Ende nur kompensiert – was zwar besser ist als nichts, ergo gutzuheißen, aber eben nicht besser als wenn man die Emissionen vermieden hätte? Achte darauf, dass das Unternehmen nicht nur kompensiert (etwa „Bäume pflanzt„), sondern auch schildert, wie es CO2 reduziert oder vermeidet (Ökostrom, Green Buildings …).
- Gerne wird zum Beispiel Atomkraft als klimaneutral gepriesen. Auf dem Papier mag das stimmen, aber jenseits der langen Historie von (oft vertuschten) Strahlungsunfällen und GAUs existiert bis heute kein schlüssiger Plan, wie wir den Atommüll sicher lagern und wer diese Lagerung in den kommenden Tausenden von Jahren bezahlen soll.
- Denke ganzheitlich: Wird in Wirklichkeit nur ein Aspekt eines Produktes, eine Marke eines Konzerns, ein Ausschnitt der Unternehmens „klimaneutraler“ gemacht, während der Rest klimaschädlich bleibt?
- Ist das Produkt zwar klimaneutral – aber für sich genommen überflüssig? Erzeugt es neue Umweltprobleme, die vom Begriff der Klimaneutralität gar nicht berücksichtigt werden?
Langfristig muss der Gesetzgeber aber verbindliche Richtlinien oder ein Siegel herausgeben, damit die verschiedenen Qualitäten, die sich hinter dem Begriff „klimaneutral“ verbergen, für den Verbraucher leichter erkennbar sind. Eine Alternative wäre eine CO2-Kennzeichnung, wie sie zum Beispiel Oatly eingeführt hat.
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